Wie muß das sein, wenn . . .?
Die Wirklichkeit und ein Traum
Alois Mitterer
Die Wirklichkeit München, Hofgarten, Sonntagnachmittag im Herbst 2018. Das Kriegerdenkmal liegt am Fuß der von der eiszeitlichen Isar geschaffenen Hochterrasse; es scheidet den heiteren Hofgarten vom alten Armeemuseum, dessen Bombenruine die bayerische Regierung vor et-lichen Jahren als Kern ihrer neuen Staatskanzlei hergenommen hat.
Droben im Hofgarten wimmelt es von Ausländern unter den mausgrauen einheimischen Spaziergängern. Hier, um die Gruft aus schweren Travertinquadern, ist es still. – Das Mahnmal mit der Gestalt des Unbekannten Soldaten umgibt ein ehernes Schweigen. Es ist so als wollten hier die öffentliche Nichtachtung und die Ergriffenheit der wenigen Besucher die Stille in einem ungewollten Einvernehmen hochhalten. Hier geht der Atem schwer im Anblick des hingestreckten Soldaten. Denn dieser wird dem Sinnenden zum Gleichnis unseres Volkes in seinem gegenwärtigen Zustand. Millionen seiner Söhne und Töchter sind in zwei Kriegen und als deren Folgen gefallen. Der Opfergang unseres Volkes wird verschwiegen, der Tod seiner Jugend für sinnlos erklärt, wenn nicht gar als Sühne für unseren vorgetäuschten Frevel an der zivilisierten Menschheit. Erstarrt sind nun seine besten Kräfte wie die Gestalt, die da vor dem Besucher liegt.
Doch der Niedergedrückte kann erleben, daß ihn der Anblick des Gefallenen von seinen schmerzlichen Gedanken abbringt. Bernhard Bleeker hat seinem künstlerischen Werk einen Ausdruck verliehen, der den Betrachter nicht in Wehmut und Bitterkeit versinken läßt. Vielmehr kann in ihm ein Trotz aufwallen, der eine Zukunft fordert, die den Toten ihr Recht gibt, den Sinn ihres Opfers bestätigt und die Millionen unerfüllter Leben zurückholt. Wollte der Künstler in visionärer Schau die Auferstehung des Gefallenen andeuten? Er läßt seinen Mantel nicht schlaff über die Glieder das Liegenden fließen, sondern formt steife Falten wie bei einem Stehenden. Aufgerichtet, wird der Mann zu einem Kampfbereiten mit Gewehr bei Fuß.
So möge doch unser Volk nochmal eine wirkliche Wiederaufrichtung erleben! Wie aber muß das sein an dem Tag, da die Ketten fallen, wie der Tag, an dem uns das Schicksal zur Wiedergeburt aufruft, wieder aufrecht zu stehen und frei zu reden? Wie muß der Tag in unserer Geschichte auftreten, an dem unser Volk die Freiheit erhält, wieder sein eigener Herr zu sein und wir wieder wir selbst sein sollen?
Der Traum
Wenn das Schicksal unserem Volk dieses Tor öffnen sollte - was muß in dieser Schicksalsstunde geschehen? Welche Gefühle brechen auf? Welche Gefühle dürfen ihren Lauf nehmen, welche müssen gezügelt werden? Welches sind die angemessenen Taten?
Für einen Augenblick wird den übriggebliebenen Kern unseres Volkes eine heilige Erschütterung lähmen, ehe er über den Schutt der vergangenen Jahrzehnte seine Freude hinaussingen kann.
Es muß eine Schrecksekunde der Sprachlosigkeit geben – aus freudigem Erschrecken bei den einen, aus Entsetzen bei jenen, die sich – wie Oswald Spengler es schon einmal in ein Bild gefaßt hat – auf dem Berg des deutschen Elends und Unglücks mit Hilfe unserer Feinde verschanzt hatten. Wenn sich die Spannung gelöst hat, müssen weder sogleich die Siegesfanfaren ertönen, noch Freudenfeuer brennen. Denn die geistigen Träger der neuen Zukunft – es sind die Deutschen, die der jahrzehntelangen Umerziehung getrotzt haben – verbeugen sich in einer ersten Tat vor den Toten, die der Leidensweg gefordert hat. Feierliche Hymnen und Trauermusik unserer Komponisten sind die ersten Töne, die in der Öffentlichkeit zu hören sind.
Die schon bisher schweigende, dumpfe Masse schweigt weiter, und das gestern noch mit Wort und Ton alles überflutende Medienkartell schweigt erst recht.
Eine bislang verborgene Elite tritt zusammen; sie wird den neuen Ton anstimmen: Freude und Zuversicht. Die alten Getreuen und die jungen Hoffenden müssen in der ersten Stunde hören, daß die preußische Staatsidee wieder gelten wird, daß das deutsche Kunst- und Kulturerbe wieder Leitbild und Vorbild für das schöpferische Tun sein soll, daß das Rechtswesen wieder auf Rechtlichkeit, das Finanzwesen wieder auf Redlichkeit und beide auf den Dienst am Volk ausgerichtet sein werden. In der ersten Stunde muß die dienende Rolle der Wirtschaft betont werden sowie ihre Verpflichtung, nicht auf Wachstum, Profit und raschen Verschleiß ihrer Produkte abzuzielen. Es wird erklärt, daß wir nicht der Mittelpunkt einer zu schützenden Umwelt sind, sondern ein Teil einer uns anvertrauten Mitwelt und wie diese der Naturordnung unterliegen.
Diese Zielvorgabe steckt zugleich dem „Na und?“ des abgebrühten „Mir-geht’s-doch-gut- Bürgers“ ein Licht auf. Auch ihm soll die historische Tragweite des Augenblicks bewußt und der Grundzug der künftigen Lebensordnung klar werden.
Das Hochgefühl und die Zukunftsfreude, die den wachen Teil des Volkes in diesen Tagen beherrschen, drückt unter vielem anderen Carl Löwe in seiner Vertonung der Ballade „Heinrich der Vogler“ sehr schön aus.
Zweifellos aber braucht die Mehrzahl unserer Deutschen noch Zeit, sich aus dem Schlaf und der Verwirrung von Jahrzehnten der Umerziehung zu lösen.
Schon deshalb kann sich der Jubel in der ersten Stunde nicht überschlagen. Und doch müssen jetzt Freudenfeuer lodern, Fahnen wehen und die alten Lieder erklingen, damit sich die Spannung löst und auch, damit ein Sinnzeichen des Neubeginns ins Bewußtsein des Volkes gepflanzt wird. Eine tiefgefühlte Freude und Dankbarkeit wollen aber keinen betäubenden Jubel; denn zu schwer ist die Verletzung unserer Volksseele, die nun wieder heilen soll. Und unserem Stolz widerstrebt ein vordergründiger Rummel ebenso wie auftrumpfendes Pathos.
Es träumt ein alter Mann bei wachen Sinnen in der Stille des Mahnmals für den Unbekannten Soldaten.