Gefühltes Heidentum
Ich wurde vor ein paar Tagen von einem Besucher meiner Website gefragt, ob wir Heiden wirklich daran glauben würden, daß das Gewitterlärmen von Thors Ziegen, seinem Hammer und den Rädern seines Wagens kämen, das wäre ja in der heutigen "aufgeklärten" Zeit sehr naiv und einfältig.
Ja und Nein, dachte ich und habe unten stehendes geantwortet. Was meint Ihr dazu?
Würde mich über Eure Meinung und eine Rückmeldung von den Heiden unter Euch freuen.
Hier meine Antwort:
"Da zumindest in der westlichen Welt die meisten heutigen Heiden nicht mehr von Geburt an in die "Alte Sitte" ihrer Ahnen hineingeboren werden, sondern sich ganz bewußt für das Heidentum entscheiden, ist ein solches Hinterfragen unter den Heiden natürlich noch häufiger, als bei denen, die schon in eine feste Tradition und feste Opfersitten hineingeboren wurden.
Wir heutigen (europäischen) Heiden sind in einer aufgeklärten, naturwissenschaftlich geprägten Welt groß geworden, wissen also um die physikalischen und biologischen Zusammenhänge. Deshalb ist es immer verwunderlich, daß uns Heiden unterstellt wird, daß wir diese durch unsere Göttermythen leugnen würden.
Das haben weder die paganen Völker anderer Kulturen noch die der europäischen Antike getan. Auch dort ist es kein Widerspruch, Planeten und Sterne als kosmische Gestirne zu erkennen, und trotzdem in ihnen Götter wie z.B. Saturn, Mars und Venus zu erkennen. Die griechischen Göttermythen versinnbildlichen z.B. sogar oft kosmische oder jahreszeitliche Vorgänge, d.h. sie sind versinnbildlichte Himmelskunde. Dieses übergreifende Denken, diese mehrspurige Wahrnehmung, findet man häufig auch noch in unseren Gedichten, Liedern, Träumen, Sagen und Märchen.
Heidnische Götterbilder sind so vielfältig, wie die Natur in ihren Erscheinungsbildern. Anders als in den Buchreligionen gibt es im Heidentum eigentlich keinen dogmatischen Glauben, welches Bild man sich von der Natur, der Welt, von seinen Göttern und ihrem Wirken machen muß. In dem Donnergrollen die Räder von Thors Ziegenwagen rumpeln zu hören, sollte eigentlich eher als poetische Metapher verstanden werden, die uns hilft, persönlichen Zugang zum Göttlichen zu finden. So werden Naturvorgänge personifiziert, z.B. wenn ein Baum im Frühjahr in voller Pracht erblüht, hat sich eine Göttin (Freya, Ostara etc.) darin niedergelassen.
Der eine verbildlicht sich dieses lebendige Wirken als weibliche, göttliche Person, der andere sieht darin nur das göttlich-biologische Wirken, das vielleicht weibliche Züge trägt.
Poetische Sätze wie: "Der Wind kommt auf Adlerschwingen" oder der "Frühling kommt mit Riesenschritten" würde man auch nicht naturwissenschaftlich zerpflücken. Da erblüht "des Lebens goldner Baum" bei Goethe, da "weben Frauen himmlische Blumen ins irdische Leben" bei Schiller; und trotzdem versteht jeder, daß dies nur Bilder, bzw. andere Wahrnehmungen sind. Leider verliert unsere moderne Sprache zunehmend solche schönen, berührenden Bilder, die oft aus einem verborgenen Gemüt, Gefühl oder einer Ahnung kommen und uns innerlich mehr berühren als sachliche Faktendarstellung. Diese Bilder werden von einer anderen Ebene, einer anderen Instanz in uns wahrgenommen, als die reinen Fakten.
Reinhard Falter beschreibt sehr gut in seinem Buch "Natur neu denken", die Götter der Erfahrungsreligion (Heidentum) als die Grundqualitäten und Grundcharaktere der Welt, die in der Psyche und ebenso in der Natur erscheinen.
Apoll, Dionysos, Athene, Hermes (so wie auch unsere germanischen Götter) sind nach Falter eher ergreifende Atmosphären, Stimmungen, Naturerscheinungen, Urgesetze.
So ist auch die mythische Rede und mythisches Denken gekennzeichnet durch Anerkennung der Atmosphären als Wesenheiten und zwar als die "Unsterblichen" oder "Immer-neu-Geborenen", das heißt die in der Natur- und Menschenwelt alle biologischen Lebenwesen, Dinge und Naturgesetze durchziehenden und prägenden Grundcharaktere.
Heidentum setzt auf ganzheitliche Begegnung mit diesen Göttern, als den alles durchdringenden Kräften, Energien und Wirkungen. Man nimmt diese mit dem Verstand, den Sinnen, dem Gefühl, dem Wissen, der Intuition, der Ahnung und der Phantasie wahr.
Man kann diese Begegnung auf verschiedene Weise erleben: Im Erleben der Natur um uns und in uns, in kollektiven Erfahrungen, die uns Mythen und Traditionen überliefern, in persönlichen Visionen und in eigener individueller emotionaler Wahrnehmung und Vorstellung, das heißt in den Metaphern und Personifizierungen, die das göttliche Wirken in uns (Phantasie, Verstand und Gefühl) hervorruft.
Mit anderen Worten: es ist möglich, von Donner und Blitz als physikalischem Naturwirken zu wissen, und sich trotzdem dieses göttliche Wirken
in Bildern, wie denen des Ziegenwagens oder des Thorshammers, vorzustellen. Die "Donnerkraft" erkennt man dann eben als die "Ziegenwagen" oder "Hammerkraft" die dort am wirken ist. Das kann dieselbe Idee von einer Kraft sein, die in uns erwacht, wenn wir zornig sind oder kraftvoll etwas verändern oder behüten wollen, oder wenn wir uns mutig Riesengewalten entgegenstellen. Dann fließt "Thorsenergie", dann handelt Thor. Und diese Kräfte werden Person, werden Gott.
Sätze wie: Ich bin stark wie ein Riese oder schwach wie eine Maus oder sanft wie die Sonne (könnte auch Baldur heißen), implizieren ja auch nur Bilder von natürlichen Eigenschaften oder Charakterzügen.
Je nach Gemüt, Wissen, Weisheit und Charakter hat jeder Heide seinen eigenen Zugang zu seinen Göttern. Eine Regel gibt es da nicht.
Deshalb gibt es ja auch tausende verschiedene Götter(-vorstellungen), je nach Region, Naturereignis, Volk und Epoche, die sich teilweise ähneln oder gänzlich unterscheiden. Für den einen manifestiert sich göttliches Wirken in einer Person, der andere sieht in der Personifikation nur ein mythisches Bild.
Ich vermute, du findest unter den Heiden keinen einzigen, der die physikalischen Gesetze beim Gewitter leugnen würde, und trotzdem hat er auch kein Problem mit dem Thorshammer und dem Ziegenwagen, da dieses Wahrnehmungen auf verschiedenen Ebenen sind. Diese vielschichtige Wahrnehmung, die nicht allein nur auf den Verstand hört, ermöglicht uns aber auch die Existenz von Dingen zu akzeptieren, welche die Naturwissenschaft verworfen hat, weil sie es nicht mit Studien und Experimenten beweisen kann. (z.b. Geister- und Totenbegegnung, Wiedergeburt, schamanistische (Geist-)heilung, Intuition, unsichtbare Nabelschnur von Müttern und Kindern über Kontinente hinweg, teile der Quantenphysik, Wahrsagen (Zukunftsvorhersagen), Wahrträume, Magie etc.).
(...)
Beste Grüße
Swantje